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Die dem See begegnen (Auszug)

Heute wurde nichts aus einer Begegnung, von Gilberts Boot fehlte jede Spur. War auf dem Wasser draussen etwas vorgefallen? Liliane kannte den See. Er konnte heimtückisch sein, in einem Moment ruhig wie ein schlafendes Kleinkind daliegen, um im nächsten Augenblick wie ein Feuerdrache hochzusteigen und ungestüm aufzuwogen.

 

Gilbert war ein erfahrener Bootsführer, er hatte schon viele Stürme auf dem See erlebt. Im Städtchen wurde erzählt, dass er sich einmal beim Kampf gegen eine heftige Windsbraut mit der linken Hand in einem Seil verheddert habe und ihm dabei die Kuppen des Ring- und des Mittelfingers abgetrennt worden seien. Am nächsten Tag war er wieder auf dem See gewesen, um ihm zu zeigen, dass er sich nicht einschüchtern liess.

Liliane strengte ihre Augen an, doch das Boot wollte nicht auftauchen. Sie fröstelte. Instinktiv rubbelte sie mit den flachen Händen ihre Arme. Der Atem hatte sich beruhigt, der feuchte Nebel aus ihrer Nase war schlanker geworden. Sie bückte sich, um das Badekleid vom Boden aufzunehmen, da sah sie einen Glanz, der zuerst winzig, alsbald zu einem dunkelgelben, runden Licht aufquoll. Der tuckernde Zweitaktmotor klang wie ein anrührendes Liebeslied. Lilianes Herz begann mitzusingen.

 

Gilbert hatte ein forsches Tempo angeschlagen, er schien es eilig zu haben, kam nicht wie sonst näher ans Ufer und blickte beim Vorbeifahren stur geradeaus. Liliane winkte wie wild und hörte erst auf, als sie von Gilbert nur noch den Rücken sah. Obgleich sie nicht wollte, war sie enttäuscht. Mindestens ein wenig. Morgen würde sie nach den dreiundzwanzig Zügen im See nicht auf ihn warten, bis sie durchgefroren war.

 

Behände parkierte er das Boot mit dem Bug voran und vertäute es seitlich am Anlegeplatz. Dann schaltete er den Motor aus und stellte einen blechernen Kübel und zwei Kisten aus Kunststoff auf den Steg. Der Fang war ordentlich, er würde mehr Zeit brauchen als üblich, um die Fische auszunehmen.

 

Ausgerechnet heute, wo er keine Zeit hatte. In einer Stunde musste Gilbert vor Gericht sein. Einer blöden Geschichte wegen. Vor einigen Monaten hatte der Wirt des nobelsten Gasthofs im Städtchen bei ihm eine grössere Menge Flussbarsche bestellt. Gilbert wusste, dass der See nicht so viele Fische hergeben würde. Um den Auftrag nicht zu verlieren, hatte er sich von einem Händler aushelfen lassen. Mit Flussbarschen aus Estland. Dummerweise hatte er an einem Fisch die Etikette übersehen, auf der dessen Herkunft vermerkt war. Und blöderweise hatte er alles abgestritten, als er damit konfrontiert worden war. Die Anklage lautete auf Betrug und arglistige Täuschung.

Gilbert legte die Fangnetze fein säuberlich zusammen, rollte die Taue auf, langte nach dem gestreiften Seesack mit der gelben Regenpelerine, dem übriggebliebenen Schinkenbrot und der praktisch leergetrunkenen Thermoskanne mit Kaffee und lud ihn zusammen mit den Kisten und dem Eimer auf den bereitstehenden Handziehwagen. Die Baracke, in der er mit seinem Geschäft eingemietet war, lag gut zweihundert Meter vom Hafen entfernt.

 

Auf dem Weg dorthin fiel ihm ein, dass er die Frau, die täglich im See badete, nicht gesehen hatte. War ihr draussen im Wasser etwas zugestossen? Gilbert kannte den See. Er konnte heimtückisch sein, in einem Moment ruhig wie ein schlafender Hundewelpen daliegen, um im nächsten Augenblick hochzufahren und als Ungeheuer über alle herzufallen, die sich ins Wasser wagten. 

«Die dem See begegnen» erscheint im April 2025.

Vorbestellungen nimmt der Verlag gerne entgegen.

 

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